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    Zur Diskussion um die "authentische" Folklore
    aus dem Buch "Die bulgarische Tanzfolklore" Kapitel 4: Rhythmen und Tanztypen, S. 67 ff.

    Echte Folklore

    ...

    Diese Schöpfungsprozesse im Bereich der Tanzfolklore setzen sich bis in die Gegenwart fort und berühren damit unser überkommenes Verständnis vom Wesen der Folklore. Drei Merkmale machen nach einer weit verbreiteten Auffassung eine authentische Folklore aus: Sie ist

    erstens aus nicht näher definierten "alten Zeiten" überliefert, sie hat

    zweitens einen unverwechselbaren Stilcharakter, durch den sie sich von den Folkloren aller anderen Ethnien unterscheidet, und sie ist

    drittens eindeutig lokalisierbar in einem Dorf oder einer Region.

    Auf der Grundlage dieser nicht weiter hinterfragten Überzeugung hört man oft hiesige Folkloretänzer die "Künstlichkeit" bestimmter Tänze kritisieren, die von Tanzlehrern im Rahmen ihrer Kurse dargeboten werden, oder Tanzlehrer streichen als ihren besonderen Vorzug heraus, daß sie ausschließlich "authentische", "nicht choreographierte" Tänze anbieten. Der Authentizitätsbegriff, der in dieser Debatte als Argument ins Feld geführt wird, gerät jedoch gehörig ins Wanken, wenn man Folklore-Feldforschern wie Stefan KOTANSKY zuhört. Erstens:

    "1972 war ein Festival in Serbien in Leskovac, wo sie ‚izvorni tanci', Tänze von der Quelle, ‚reine' Folklore getanzt haben. Das Blöde dabei war, bei diesem Festival konnte man etwas gewinnen. Es war ein Wettbewerb. Und das änderte die Sache sehr schnell: ‚Ja, wie können wir gewinnen? Unsere Folklore ist vielleicht zu einfach ... Warte mal, der Dingsbums, hat der nicht einen Onkel in Belgrad? Der kennt bestimmt einen Choreographen. Wir holen einen Choreographen her, der schaut unsere Sachen an und der macht schon was. Wir gewinnen bestimmt.' Dann kann man sehen wie ‚unser Tanz', ‚nasko Kolo' am Ende zu etwas ganz Anderem wird, als wie wir es kennen. Und die Nachbarn im zwei Kilometer entfernten Dorf hören davon und holen jemanden und diese Konkurrenz schaukelt sich immer weiter auf."

    (Dieses und die folgenden Zitate von Stefan KOTANSKY: mündliche Mitteilung April 2002)

    Die einheimische Bevölkerung bearbeitet also selbst ihre überlieferten Tänze und nimmt erhebliche Veränderungen an ihren Formen vor.

    Zweitens:
    Pece ATANASOVSKI und Atanas KOLAROVSKI, zwei der namhaftesten makedonischen Tanzlehrer, haben Stefan KOTANSKY erzählt, wie sie mit anderen Tänzern zusammensaßen und berieten:
    "‚Wir brauchen einen Brauttanz.' – ‚Gut, wer kennt einen Brauttanz?' – ‚Na ja, bei uns haben wir ihn so getanzt ...' – ‚Und auf welches Lied?' – ‚Und wie habt ihr das getanzt?' Und innerhalb von 15, 20 Minuten stellten sie etwas zusammen und das ist dann zum Standard-NEVESTINSKO geworden. Aber in einem Dorf findet man ihn nicht als echten Brauttanz, sondern es ist eine neu entwickelte Form. Aber jetzt tanzt das jeder und es kann sein, wie dieser Prozeß öfter abläuft, daß der Tanz vom Dorf angenommen wird. Stanimir VISINSKI hat ihn so gelehrt, Pece hat ihn so gelehrt, Atanas ... Wahrscheinlich stammen die Elemente aus Westmakedonien, aber es ist keine reine, lebendige Form aus einem Dorf. Viele Tänze, die wir kennen, sind choreographische Schöpfungen, die zum Standard geworden sind."

    Tänze, die wir bis jetzt für echte Folklore hielten, entpuppen sich also als neue Kreationen. Dennoch ist es unzweifelhaft Folklore – das Kriterium der Überlieferung müssen wir allerdings wohl fallenlassen. Übrigens ist es auch im Bereich des deutschen Volkstanzes eine Tatsache, daß Tänze auf der Grundlage überlieferter Figuren und Schritte von anerkannten Tänzerpersönlichkeiten neu geschaffen werden. Dafür hat man den Begriff der "Autorentänze". (Auch der bulgarischen Folklore ist er geläufig: "avtorski tanci".)

    Drittens: Der Anstoß zu Neuschöpfungen kann sogar von Folkloretänzern im Ausland ausgehen, aus deren Kreis gleichzeitig einerseits die Forderung nach "Authentizität" zu hören ist und andererseits den "echten", überlieferten Tänzen Ablehnung entgegengebracht wird. Stefan KOTANSKY berichtet weiter:

    "Diese Tänze hat ... [ein bekannter Tanzlehrer aus Südosteuropa] das erste Mal in Amerika gelehrt und die Leute haben gesagt: ‚Das können wir nicht, das ist zu schwierig. Komm bitte wieder und bringe schönere Musik und leichtere Tänze.' Nun, was heißt das? Was ihm sehr gut gefallen hat beim ersten Mal, waren israelische Tänze. Er hat HAROA HAKTANA [ein israelischer Tanz] geliebt wie keinen anderen Tanz. Er war Choreograph, er war Künstler und sah, was die Leute mögen. Ein, zwei Jahre später kam er wieder und brachte schöne, neue Musik. Im Wohnzimmer von Tom Bozigian und Rubin Buchetta haben sie Tänze darauf getanzt. Ich erinnere mich noch gut, zwei Jahre später beim Camp kam er und sagte: ‚Stefan, wie ging der eine, den ich vor zwei Jahren gezeigt habe?' Er hatte ihn seitdem nicht mehr getanzt. Er hatte ihn unterrichtet und war wieder nach Hause zurückgegangen. Dort tanzte man das nicht, sondern das, was man sein Leben lang getanzt hatte: die alten, traditionellen Formen. So habe ich ihm den Tanz nochmal gezeigt, denn das war eine Choreographie, eine künstlerische Arbeit."

    Viertens gibt es Folkloretänze wie z.B. den SCHEICHANI, ein "von Armeniern in Detroit getanzter chaldäischer Tanz". Beispiele dieser Art von Folkloretänzen, die unter bunt zusammengewürfelten Gruppen von Emigranten im Exil entstanden sind, sind zahlreich zu finden. Vorausgesetzt, wir können uns noch darauf verständigen, daß auch dies Folklore ist, entfällt auch die geographische Lokalisierbarkeit in einem angestammten Siedlungsraum einer Ethnie und von unserem geschätzten Authentizitätsbegriff bleibt nicht mehr viel übrig – nur noch die unverwechselbare Echtheit des Stils. Wer will die beurteilen? Was dem einen Choreographen zugestanden wird, soll dem anderen nicht erlaubt sein? Und was ist eigentlich die Aufgabe von all den Absolventen der Folkloreakademien wie z.B. der in Plovdiv? Das sind doch alles echte Bulgaren! Ihr Auftrag ist eindeutig, stilistisch einwandfreie Choreographien zu schaffen. Das gelingt mal mehr, mal weniger.

    Aber unser eigenes Gefühl wollen wir doch nicht in Frage stellen. Was ist mit dem Unbehagen gegenüber bestimmten "künstlichen" Neuschöpfungen? Hier sind wir wieder auf uns selbst zurückverwiesen, d.h. auf unseren Geschmack, jedenfalls nicht auf irgendwelche objektiven Kriterien. "Echt" und "künstlich", "authentisch" und "gemacht" sind nach näherem Hinsehen nur noch schwerlich haltbare Unterscheidungen.

    Folklore ist auf diese Weise etwas Lebendiges, sich in der Zeit fortwährend Weiterentwickelndes, das nicht starr auf eine "richtige" Form fixiert bleibt. Auch die unzähligen Varianten der einzelnen Tänze in der Fläche, ihre diversen Versionen von Dorf zu Dorf erklären sich aus diesem fortwährenden Schöpfungsprozeß, der in der Literatur gerne als "kollektiv" bezeichnet wird, aber immer auf den Einfällen Einzelner beruht. Kollektiv sind in der Regel lediglich die Akzeptanz, d.h. die Prüfung, ob die neue Form den Regeln der lokalen Tradition entspricht und – falls ja – die Übernahme in den örtlichen Gebrauch.