"Laientanz" und "Kulturanthropologie"
eine Korrespondenz über die Volkskunde in Deutschland
Von: Herwig Milde
Betreff: Aw: Belasicko oro
Datum: 18. November 2014 00:52:29 MEZ
An: J.W.
Liebe J.,
…
Noch zu Deinem Hinweis auf SFDC*-Materialien im Netz:
Schon seit Langem fällt mir immer wieder aufs Neue der Unterschied auf, wie anders in den USA und in Deutschland mit dem Folklore-Thema umgegangen wird.
Jetzt auch wieder - das Staunen über eine lückenlose Dokumentation von sämtlichen Folk Camps von 1948 bis heute. Was auch heißt: Die Generationenkette reißt nicht ab. In den USA jedenfalls nicht ...
Wie kläglich ist dagegen die einzige ernstzuehmende Folkloretanz-Publikation in D, die Zeitschrift "Tanzen", Verbandsorgan des DBT (Deutscher Bundesverband Tanz), untergegangen, nachdem erst der Kögler Verlag, dann Prof. Klaus Kramer als Chefredakteur sich von der Zeitschrift zurückgezogen haben. Gab es in Deutschland keine kompetente Nachfolge für Klaus Kramer? Wieso nicht?
Im Unterschied zu Deutschland hat der Universitätsbetrieb in den USA - und mit ihm die Wissenschaftler - kein Problem damit, sich auch der Volkskunst zuzuwenden. Wissenschaftliche Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit werden dort ohne Dünkel (!) unterschiedslos auch auf den Bereich Folkloretanz angewandt, während er in Deutschland einer Handvoll Dilettanten - dazu zähle auch ich - überlassen bleibt, die das Feld meist eher schlecht als recht beackern, wenn auch mit viel gutem Willen, aber der kann Kompetenz leider nicht ersetzen.
Vor diesem Hintergrund hebt sich jemand in Deutschland, der die SFDC-Materialien kennt - und nützt! - herausragend ab wie ein Leuchtturm! Ja, J.!
Datum: 18. November 2014 09:20:48 MEZ
Von: J.W.
An: Herwig Milde
Betreff: Aw: Belasicko oro
Lieber Herwig,
danke für das Kompliment! Und ich darf's Dir gerade von ganzem Herzen zurückgeben - mir fehlen in Deutschland nämlich sonst auch die Leute, die an folkloretanzmusikalischen Hintergründen interessiert sind.
Der Umstand, dass die nicht da sind, hat meines Erachtens eine Geschichte. Volkskunde als universitäres Fach war nach 1945 recht verpönt, teilweise natürlich aus einleuchtendem Grund, aber der Rest kam dann gleich kollektiv mit unter die Räder. Ich hatte mich in den 80ern in Frankfurt für einen Studienplatz in Volkskunde beworben, bekam ihn auch - als ich ihn dann aber antrat, hieß das Fach plötzlich "Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie", vermeintlich orientiert an amerikanischem Vorbild. Und was da passierte, war wirklich unglaublich: Anstatt die solide, etwas angestaubte Volkskunde mit Soziologie, Soziopsychologie und den ganzen anderen schicken neuen Aspekten gewinnbringend zu erweitern (wie es nämlich in den USA der Fall ist), wurden nur noch diese gelehrt - und das ganze volkskundliche Basiswissen wurde schnöde belächelt und ignoriert. Frankfurt war zwar extrem, was das angeht, aber die Tendenz war schon überall spürbar, selbst in der "großen" Ethnologie, wie sie damals gelehrt wurde. Das Ergebnis: Ziemlich viele Kopffüßler, denen das Basis-Fachwissen fehlt; und in den meisten Fällen auch die Erkenntnis, dass dem so ist.
Vielleicht hätte ich doch besser in den USA studieren sollen - aber das weiß ich jetzt. Im nächsten Leben dann....
Herzliche Grüße an Dich,
J.
* SFDC: Stockton Folk Dance Camp/USA