Obersteinbach - ein "Mekka" des Folkloretanzes
Obersteinbach ist für mich im Laufe der Jahre zu einer Art Familientreffen geworden. Ich fahre zum x-ten Mal wieder hin. Nach einigen Stunden Autobahn wird das Tempo auf den fränkischen Landstraßen langsamer und hinter Neustadt/Aisch auf den engen, kurvigen Sträßchen zwischen Münchsteinach und Scheinfeld nochmal ruhiger. Dann - in Obersteinbach rechts ab und hinten den Berg hoch. Der Puls wird etwas schneller. Jedes Jahr, immer. Ein paar Autos stehen schon da: Frankfurt, aha! Und Tübingen, wer wird das sein? Berlin? Das ist Nelu!
Wenn nicht anderswo unterm Jahr auf Wochenendkursen, trifft man sich doch nach einem Jahr meist wieder in diesem ländlichen Schlößchen. Etliche kennen sich seit mehr als zwanzig Jahren ("Gott, waren wir jung, damals!"), waren vielleicht mit Belco in Bulgarien, mit Pece in Makedonien und natürlich in Griechenland mit Petros, Thedossis, Stavros, Giorgos, Dimitris, Jannis, Savvas, ... und sind jetzt wieder hier. Stefanie und Petra fallen sich um den Hals. Die Umarmung dauert so lang wie die Wiedersehensfreude groß ist.
Später in der großen Halle bei der Vorstellung der beiden Tanzlehrer wird der Kreis enorm groß. Inzwischen sind die meisten da und immer noch treffen Teilnehmer ein. Alte Hasen? Ja, aber auch auch viele, die noch nicht so oft da waren. Einige sind zum ersten Mal in Obersteinbach. Ich zähle schon mal: Dreiundsiebzig. Ab morgen zu den Kursen teilt sich die Menge in zwei Gruppen: die mit dem "langsamen Lerntempo" und die mit dem "schnelleren Lerntempo" - aber was heißt das schon? In der "langsamen" Gruppe tanzen auch erfahrene Tänzerinnen und Tänzer und in die "schnellere" Gruppe trauen sich einige verwegene Anfänger.
Das ist der Charme an Obersteinbach: die gemischte Vielfalt. Alle tanzen mit allen, besonders bei der allabendlichen "Party" im Speisesaal, wo der Platz nicht eben üppig bemessen ist, wo dafür aber die Tanztemperatur umso höher steigt. Bis zwei oder drei Uhr früh, manchmal auch bis vier oder fünf. Immer sind Tanzführer vorne dran mit ihrem Repertoire an beliebten "Hits", mit "Oldies" oder ganzen Serien pontischer, makedonischer, rumänischer Tänze oder den schönsten Tänzen aus den Kursen der letzten Jahre. Und das sind durchaus nicht nur Tänze für Könner - "Tanzhaustänze" sind sehr beliebt, bei denen jeder sich recht schnell zurechtfindet. Hier geht es quer durch alle Länder: Griechenland, Bulgarien, Türkei, Makedonien, Israel, Rumänien, Ungarn, Kroatien, Albanien, Rußland, Frankreich ... Bestimmt habe ich ein paar vergessen. Jeden Abend ergibt sich wie von selbst ein anderes Programm. Es ist jedes Mal spannend. "Obersteinbach" ist eben nicht nur ein Folkloretanzkurs, sondern - mindestens ebenso wichtig - ein Tanztreffen, wo man seine alten (oder neue) Tanzfreunde trifft und mal so richtig abtanzen kann. Tagelang.
Neulinge mag es vielleicht nicht überraschen, aber der Eingeweihte staunt doch immer wieder, wie viele fähige Tänzer hier zusammenkommen. Wo gibt es das sonst noch, daß auf so hohem Niveau in solcher Vielfalt so ausdauernd getanzt wird? Die Crème des Folkloretanzes aus ganz Deutschland, aus der Schweiz, aus Österreich, Italien, Belgien, Frankreich kommt hier zusammen. Manchmal sieht man hier auch Norweger, Engländer, Nordamerikaner. Obersteinbach - das ist das Mekka des deutschen Folkloretanzes.
Ganz unbekümmert schert man sich hier nicht um Nationalitätenkonflikte. Für den, der die Geschichte und die Komplexität dieser Nachbarkonflikte im Detail kennt, mag diese Indifferenz vielleicht naiv erscheinen. Eine Verständigung untereinander ist aber nur dann möglich, wenn man sich gegenseitig freundlich anerkennt und annimmt. Und genau das geschieht hier, wenn trotz der furchtbaren Nachrichten aus dem Kosovo, aus Serbien, aus Israel, trotz der grauenhaften Völkermorde des 20. Jahrhunderts türkische, serbische, israelische Tänze getanzt werden, wenn sogar der türkische sich neben dem bulgarischen Tanzlehrer einreiht und alle sich in ausgelassener Freude dem gleichen Rhythmus hingeben.
Und das seit über zwanzig Jahren. Die Kontinuität garantieren ein paar engagierte und passionierte Tänzer, die sehr viel Kraft und Zeit und auch Nerven investieren. Hier müssen Namen genannt werden: Angefangen hat Wilfried Müller (Hersbruck) mit Belco Stanev, der jedes Mal dabei ist und die freundschaftliche Atmosphäre und die lustige Stimmung entscheidend mitbestimmt, später hat Michel Hepp (Tübingen) die Organisation übernommen, unterstützt von Hartmut Bartels. Es ist fraglich, ob Obersteinbach ohne ihre Einsatzbereitschaft und ihre Zähigkeit die Folkloretanzinstitution geworden wäre, die es heute ist. Es ist ihr Verdienst, wenn wir uns nach der Rückkehr aus Bulgarien auf dem Flughafen voneinander verabschieden können mit dem Gruß:
- "Bis in Obersteinbach!"
Herwig Milde
Freiburg, August 2005