Wo liegt eigentlich der Balkan?
Zum problematischen, aber weitverbreiteten Gebrauch
eines geographischen Begriffs
"Der Balkan" – darunter verstehen viele bis heute den größten Teil Südosteuropas, nämlich alles, was für den Reisenden "hinter Wien" kommt, wo für den ordentlichen Mitteleuropäer "der Orient anfängt", also Unzuverlässigkeit, Schlendrian, Unsicherheit und viele weitere mit "Un-" bezeichnete Negationen all dessen, worauf wir so stolz sind. Die neutralere Bezeichnung "Südosteuropa" hat den eigentlich auf einem Irrtum, auf mangelnder Kenntnis beruhenden Begriff "Balkan" für so unterschiedliche Länder und Regionen wie Kroatien, Serbien, Makedonien, Albanien, Bulgarien und Griechenland - und das sind noch nicht einmal alle - nicht verdrängen können, auch nicht bei Folkloretänzern, die immerhin die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Länder wenigstens ansatzweise kennen. Aber vielleicht steht der "Balkan" ja gerade für das buntgemischte Chaos. Das heißt auch: für ambivalente Ideen.
Eigentlich ist der Balkan ein ziemlich kleines Gebirge, das in seiner ganzen Ausdehnung kaum über die Grenzen Bulgariens hinausreicht. Mit der elementaren Schulbildung der europäischen Öffentlichkeit, d.h. vor allem der der Journalisten und Politiker des 19. und 20. Jahrhunderts, konnte es nicht weit her gewesen sein, wenn dennoch ein sehr viel gößerer Raum, der allerdings von einem anderen, viel umfangreicheren, dem Dinarischen Gebirge und einer Vielzahl weiterer Gebirge eingenommen wird, mit "dem Balkan" gleichgesetzt wurde. Ein Blick auf eine Karte hätte genügt, um das zu klären. Aber nicht einmal der Berliner Geograph Johann August Zeune - die gesamte deutsche Geographenzunft bedeckt voller Scham ihr Gesicht - war dazu in der Lage, als er 1808 die Bezeichnung "Balkanhalbinsel" prägte.
Balkan (gelb) und "Balkan" (helle Landoberfläche) (Bild: Wikipedia) |
Daß diese Dummheit sich dennoch so hartnäckig halten konnte, trotz vernünftiger Alternativvorschläge, spricht für das Bedürfnis nach einem prägnanten Begriff, in dem sich alles bündeln ließ, was sich dazu eignete, die südosteuropäischen Länder herabzuwürdigen und Mittel- und Westeuropa dadurch in größerem Glanz erscheinen zu lassen: Rückständigkeit, Zerstrittenheit, Unterentwicklung, Chaos. Bei deutschen Lesern besonders populär waren Karl Mays "In den Schluchten des Balkan" und "Durch das Land der Skipetaren", wo er die Albaner stellvertretend für die Bevölkerung des "Balkan" als arm, primitiv, grausam, gesetzlos, fanatisch, bestechlich, mißtrauisch und rachsüchtig schilderte.
Der unbeirrte Gebrauch der Bezeichnung "Balkan" in unserer Folkloretanzszene, trotz abwertender Nebenbedeutungen, erinnert an andere, "politisch unkorrekte" Wörter, die inzwischen erfolgreich ausgemerzt wurden. Dem sogenannten "Balkan" würde ich das gleiche Schicksal wünschen.
Herwig Milde, Mai 2007
Mehr dazu im Internet auf
Die Balkanhalbinsel (Wikipedia) http://de.wikipedia.org/wiki/Balkanhalbinsel
und in der sehr aufschlußreichen Arbeit von Ulf Brunnbauer (FU Berlin):
"Der Balkan"
http://ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/grenzregionen/ulf-brunnbauer-der-balkan
Zu einer ähnlichen Einschätzung wie der oben beschriebenen kommen Clewing und Schmitt in ihrer hervorragenden "Geschichte Südosteuropas" (Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt (Hg.): Geschichte Südosteuropas vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 7 ff). Dort finden wir eine detaillierte Geschichte der beiden Begriffe "Südosteuropa" und "Balkan".