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    Vorwort

    "En effet, dans l'histoire littéraire de la Bulgarie, les chansons traditionnelles occupent la page la plus précieuse et la plus intéressante." (Yoto Yotov: La forêt se mit à pleurer: chansons populaires bulgares.)
    "Tatsächlich besetzen die traditionellen Lieder in der Literaturgeschichte Bulgariens die wertvollste und interessanteste Seite."


    Das Lied als literarische Ausdrucksform

    Nach allem, was wir mit bulgarischen Volksliedern erlebt haben, können wir diese Feststellung nur bestätigen. Gewiß ist die literarhistorische Bedeutung der bulgarischen Lieder kein Alleinstellungsmerkmal; in einem allgemeinen Sinn gilt für deutsche, französische und andere Volkslieder Ähnliches. Warum Yoto Yotov allerdings den bulgarischen Liedern eine so herausragende Bedeutung zumißt, wird verständlich, wenn man zurückblickt in die Geschichte: Während der fünf Jahrhunderte unter der türkischen Fremdherrschaft waren die Bulgaren auf die Funktion von Steuerzahlern reduziert und hauptsächlich mit dem Überleben ihrer Familien beschäftigt; der wohlhabende Adel, der - wie es in Europas Westen der Fall war - die Muße gehabt hätte, Kunst, Philosophie und Wissenschaft zu entwickeln, war eliminiert worden. Da die bulgarische Kirche bis ins 19. Jahrhundert griechisch dominiert war und sich der griechischen Sprache und Schrift bediente, spielte sie im kyrillisch verschrifteten kulturellen Leben der Bulgaren keine zentrale Rolle. So blieb einzig der sonntägliche "Horo", d.h. das Zusammenkommen auf dem Dorfplatz zum Tanz, und die vielen Kalender- und Familienfeste mit ihren Ritualen, ihren Liedern und Tänzen als kulturelle Betätigung und somit das Volkslied die bei weitem verbreitetste lite-rarische Ausdrucksform. Dies drückt sich auch in der großen Zahl der zunächst ausschließlich mündlich überlieferten - und im Gedächtnis behaltenen - Lieder aus; Nikolaj Kaufman berichtet, daß Volkssänger in der Regel 300 bis 400 Lieder beherrschen, häufig bis zu 500, in Einzelfällen über 1000. Ihre Bedeutung für die kulturelle Praxis unter dem "türkischen Joch" erhellt sich vor dem Hintergrund des überwiegend vorherrschenden Analphabetismus; erst im Laufe des 19. Jh. wurde mit der Institution des "Lesehauses" (читалище) allmählich eine allgemeine Volksbildung etabliert.


    Notensatz

    Unsere Liednotationen wurden von den jeweis angegebenen Musikaufnahmen transkribiert (mit Ausnahme des Chorsatzes von Išu, bjala Nedo, der uns vom Komponisten freundlicherweise überlassen wurde). Transkriptionen ermöglichen es uns, Noten eines Stückes zu erhalten, das möglicherweise nie vorher aufgeschrieben wurde, bergen aber auch einige Unwägbarkeiten.
    Ein alle Musiktranskriptionen prägender Faktor ist das individuelle Hörvermögen des Schreibers. Jede Person hört anders und nimmt Höhen und Tiefen auf eine ganz eigene Weise wahr; dies beeinflußt das Ergebnis in jedem Fall. Unweigerlich greift man auf die persönliche Summe des bisher Gehörten als initiale Referenz zurück. Kennt man einen musikalischen Sachverhalt nicht – wie eine spezielle Taktart, Taktgruppierung oder Harmonie -, notiert man das Gehörte vorwiegend so, daß es zu den eigenen Erfahrungen paßt. Je umfassender diese sind, desto wahrscheinlicher wird es, ein Stück möglichst umfassend begreifen zu können.

    Die Aufnahmetechnik ist ein weiterer wichtiger Aspekt bei Transkriptionen. Enthält eine Aufnahme wenige, gut unterscheidbare Stimmen und wurde womöglich noch mit mehreren Kanälen in guter Qualität aufgenommen, ist das Übertragen meistens leicht. Interessant wird es mit Aufnahmen, die schon auf der Originalplatte verrauscht erklingen oder die analog als orchestraler Gesamtklang aufgenommen wurden, womöglich noch in Mono. Da braucht es ein geschultes Ohr und auch eine gewisse Kenntnis der Materie - ist die zweite Stimme, die man vermeint, zu hören, wirklich da oder leitet man sie gerade aus der Gesamtharmonie ab? Ist das, was man wahrnimmt, im betreffenden Kontext überhaupt stilistisch möglich? In solchen Fällen kann man nur darauf hoffen, daß man die richtige Entscheidung trifft - eine Garantie gibt es nicht.

    Aus all diesen Gründen bleibt jede Transkription einer Musikaufnahme eine mehr oder weniger präzise Annäherung an das Original. Es wäre unrealistisch, anzunehmen, wir hätten hundertprozentig alle Töne erfaßt und aufgeschrieben – auch wenn wir danach strebten. Bei besonders komplex orchestrierten Stücken haben wir uns außerdem dazu entschlossen, die Begleitstimmen zu komprimieren. Anstatt jedem Instrument seine eigene Notenlinie zuzuweisen, haben wir mehrstimmige Systeme verwendet und auf Doppelnotationen gleicher Stimmen für verschiedene Instrumente verzichtet.

    Obgleich mehrere der Aufnahmen eigentlich keine Begleitung durch ein Akkordinstrument aufweisen, haben wir in den meisten Fällen Akkorde basierend auf den Orchestersätzen notiert, um den spontanen musikalischen Zugang zu den Stücken zu erleichtern.

    Unsere Transkriptionen sind – mehr oder weniger historische – Momentaufnahmen eines bestimmten Interpreten mit einem bestimmten Orchester und Arrangement. Während traditionelle bulgarische Sänger der frühen Aufnahmejahre in ihrer Interpretation überlieferten Materials lediglich in der Länge der Lieder beeinflußt wurden (soweit die Lieder von der Zensur zugelassen worden waren), zielten die in der Regel klassisch ausgebildeten Arrangeure in vielen Fällen nach individuellem Ausdruck in ihrem Orchestersatz; nur wenige waren dafür bekannt, das Arrangement so zu gestalten, daß das Lied an sich gänzlich im Vordergrund stand und durch das Orchester lediglich unterstützt wurde.

    Die von uns transkribierten Aufnahmen entstanden zwischen 1950 und 2000; die Abschriften erlauben somit einen kleinen Einblick in die Interpretation traditioneller bulgarischer Lieder im Laufe der Jahrzehnte.


    "Tanzlieder"

    Die vorliegende Sammlung trägt den Titel "33 bulgarische Tanzlieder". Auf den zweiten Blick stellt sich die Frage: Was ist das eigentlich, ein "Tanzlied"? Wir haben es hier zu tun mit (hörbaren) Liedern und (sichtbaren) Tänzen - wann aber ist ein Lied ein Tanzlied? Oder anders gefragt: Bilden Lied und Tanz originär eine Einheit oder wurden sie sekundär miteinander kombiniert? Und wer hat sie kombiniert? - Oberflächlich ausgedrückt: "das Volk" (schon vor langer Zeit)? Oder (unserer Tage) der Choreograph?

    Aufs Ganze gesehen ist sicherlich beides der Fall: Die einen Lieder waren schon immer Tanzlieder, die anderen sind es erst nachträglich geworden. Vor allem die zu einem Ritual gehörenden Tanzlieder, wie z.B. der Babino horo (aus dem Ritual des Babinden, eines Festes zu Ehren der Hebammen) oder die zahlreichen Tanzlieder der mehrtägigen Hochzeitszeremonien, bilden eindeutig ursprünglich eine Einheit aus Lied und Tanz. Bei anderen Tänzen, die seinerzeit vornehmlich der Unterhaltung dienten (beim sonntäglichen Horo auf dem Dorfplatz oder bei einer Sedjanka) und denen unserer heutigen "Balkantanzbewegung" - ist diese Frage nicht immer eindeutig zu entscheiden. Einige von ihnen sind an keine bestimmte Melodie gebunden bzw. werden zu einer Vielzahl von Melodien getanzt, z.B. Pravo Horo, Svatbarska Răčenica, Pajduško. Bei diesen haben wir uns erlaubt, neue Melodien vorzuschlagen, die unseres Wissens in der hiesigen Tanzszene noch nicht in Gebrauch sind. Auch werden Tänze heute gelegentlich von Choreographen oder Tanzlehrern mit Musiken kombiniert, die ursprünglich mit den betreffenden Schrittfiguren nichts zu tun haben - auch bei rituellen Tänzen ist das manchmal der Fall. Dies geschieht oft aus so naheliegenden Gründen wie der Verfügbarkeit akzeptabler Musikaufnahmen. Hierzu müßten die verantwortlichen Tanzlehrer Auskunft geben, wenn sie auf diese Tanzlieder zurückgreifen.


    Lied als Text

    Wer als "Bulgarisch-Tänzer" hierzulande sich um die Inhalte der Tanzlieder bemüht, erlebt gelegentlich Überraschungen. Der Gesangsinterpretation und vielleicht auch der fröhlichen Musik vermeint man zu entnehmen, daß es sich bei den Tanzlieden jeweils um ein humoristisches Thema handeln muß. Der Eindruck kann aber auch täuschen. Erst der Text bzw. die Übersetzung öffnet die Augen darüber, wie deftig es gelegentlich zur Sache geht (Mališevsko - Dve nevesti tikvi brali) und worüber eigentlich gespottet wird (Bališka tropanka - Moma se v gora izgubi und Džangurica - Čula baba razbrala). Ein anderes Mal hören wir einen jungen Mann seine Liebste preisen - mit erstaunlichen Vergleichen (Dălgata - Na sărce mi leži) - und der ahnungslose Bulgarisch-Tänzer macht sich keinen Begriff davon, daß im Lied verschlüsselte politische Nachrichten (in Revolutionszeiten!) übermittelt werden (Čokmansko - Mitro majčina došterjo). Dies ist durchaus nicht weit hergeholt. Gergana Panova (Tanz nach der Wende, Bd. 1. Essen 2010) erklärt:

    "Beim alten Sonntagsreigen begleiten eine melodische Fröhlichkeit und eine damit korrespondierende tänzerische Glückstäuschung wichtige revolutionäre oder traurige Liedertexte. […]‚ […] [Die Leute] wollten, wenn sie sich was Wichtiges sagen mußten, von Türken, Griechen und anderen nicht verstanden werden. […] Keiner außer den eigenen Leuten merkte was.' […] Den Boten ging es hierbei nicht nur um das Überbringen der Nachricht, sondern auch um das Organisieren von Aufständen und die Rituale der Folklore wurden als geeignete Kulisse und Tarnung benutzt."

    Daß die Besatzungsmacht hin und wieder doch "was merkte", und welche politische Kraft damals in den Liedern steckte, zeigt das Schicksal der Brüder Miladinov, die um die Mitte des 19. Jh. eine Sammlung von 674 bulgarischen Liedern zusammenstellten. Diese Tätigkeit stand jedoch unter dem Verdacht subversiver Absichten. Sie wurden denunziert, eingekerkert und kamen in Konstantinopel im Gefängnis ums Leben.


    Niederschrift

    Bei der schriftlichen Wiedergabe der Liedtexte haben wir uns so weit wie möglich an das Original der Aufnahmen gehalten, die uns als Vorlage für Noten und Text dienten; die Originaltitel werden jeweils im Kopf der Noten genannt. Was in den Aufnahmen zu hören ist, geben der kyrillische Text und die lateinische Transliteration wieder. Dabei können Abweichungen vom Standard-Bulgarisch entstehen, wenn das Lied im Dialekt gesungen wird.

    Andere Auffälligkeiten der Texte wie z.B. ein vermeintlich kryptisch-romantisierender Sinngehalt gehen auf Eingriffe in Text und Melodie durch Komponisten und Leiter von Ensembles zurück. Texte wurden bedenkenlos verstümmelt und dadurch ihres Sinns beraubt, nur um die original oft sehr langen Lieder in ein mediengerechtes Zeitformat zu bringen. Weitere Eingriffe sind der kommunistischen Kulturpolitik geschuldet, um die Folklore zu "verbessern". Die Anmerkungen zu Polegnala e Todora Seite 122 beschreiben dieses Vorgehen.


    Übersetzung

    Auch die Übersetzung der bulgarischen Texte ins Deutsche ist oft nicht frei von Überraschungen. Wenn sie (oder auch englische Versionen) in Liedsammlungen, in Büchern oder im Großen Netz zu finden sind, ist die Aufgabe noch relativ einfach; sie müssen nur noch daraufhin überprüft werden, ob sie nach unseren Maßstäben nahe genug am Original sind. Seltene oder alte Wörter, die der vorindustriellen ländlichen Kultur entstammen oder einem Dialekt, erfordern jedoch besondere Wachsamkeit und Rechercheaufwand.

    Zum Beispiel taucht in Momino Horo - Je mi podaj jotključkove das eigentlich unverdächtige Wort dušmaneno auf: "da sa pukat, mari, dušmaneno". Ein "sa" für "se" ist noch harmlos, weil leicht zu erkennen; wir wissen ja: dies hier ist ein Lied aus den Rhodopen mit seinen dialektalen Besonderheiten. Vom Standard-Bulgarisch her könnte man dušmaneno wegen der Endung "-eno" als Adverb verkennen und mit "feindlich" o.ä. übersetzen. Für die Übersetzung mit "die Feinde" dagegen, wie es unser Wörterbuch nahelegt, wäre dušmanite zu erwarten. Bojan Dobrev klärt hierzu in unserer Korrespondenz auf, daß dušmaneno eine reguläre rhodopische nominale Pluralform darstellt und darüberhinaus die Übersetzung mit "Feinde" überzogen wäre; gemeint sind die Rivalen oder Leute, mit denen man im Dorfalltag nicht zurechtkommt. Die Zeile lautet übersetzt also: "damit unsere Widersacher platzen [vor Wut]". Nebenbei wirft diese Wörterdiskussion noch eine hochinteressante Einsicht ab: In dem kleinen Wort "naša" ("naša Minka" - unsere Minka) steckt der Hinweis auf den Handlungskontext, in den dieses Lied eingebettet ist; hier sprechen die Freundinnen und weiblichen Verwandten, die Minka herausputzen - das Lied wurde also ursprünglich von einer weiblichen Gruppe gesungen und nicht solo, wie bei unserer Tonaufnahme.


    Dank

    Unser ganz besonders herzlicher Dank gilt Svetla Cvetkova, Bojan Dobrev, den Experten vom East European Folklife Center, Martha Forsyth, Ron Houston, Nikolaj Kodžebašev, Diljana Kurdova, Dragi Spasovski, Zoran Stalevski, Stojko Stojkov, Vlada Tomova und Yoto Yotov, ohne deren Fachwissen und Hilfsbereitschaft wir vielfach nicht in der Lage gewesen wären, die Originaltexte korrekt zu erstellen geschweige denn zu übersetzen. Wir danken Herrn Prof. Dragostinov für die freundliche Genehmigung, seinen Originalchorsatz drucken zu dürfen.

    Auch unseren Tanzlehrern, von denen wir diese schönen Tänze gelernt haben, möchten wir dafür danken, daß sie unser Repertoire mit diesen "Schmuckstücken" der bulgarischen Folklore bereichert haben: Maria Evtimova, Stefan Kotansky, Diljana Kurdova, Jaap Leegwater, Yves Moreau, Krasimir Petrov, sowie Belčo, Irena und Julian Stanev.

    Wir hoffen, mit dieser Sammlung den Bedürfnissen all derer entgegenzukommen, die über die Liebe zum "Bulgarisch-Tanzen" hinaus mitsingen, die Lieder verstehen und vielleicht sogar die Konserve durch eigenes Spiel ersetzen möchten. Wenn wir damit aber nicht nur zur Praxis, zum Musizieren, Singen und Tanzen beitragen, sondern auch zum besseren Verständnis und zur Vertiefung des Wissens über das, was wir als Folkloretänzer und -musiker da tun, hätte die vorliegende Sammlung ihren Zweck erfüllt.


    Herwig Milde und Jutta Weber-Karn
    April 2018